Gastbeitrag von Uwe Werner Schierhorn
„Wallfahrtsort“ Büchel
Als ich 2013 zusammen mit meiner Tochter Franziska bei der Musikerinnenblockade in Büchel auftrat, lagen bereits einige Ostermärsche und Demonstrationen am Atomwaffenstandort in der Südeifel hinter mir. Ostermärsche meist bei schlechtem Wetter, manchmal mit ein paar Tagen Bettruhe danach. Dezember 2017, als ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons / Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen) den Friedensnobelpreis für den Atomwaffenverbotsvertrag bekam, ließen wir es uns nicht nehmen, im tiefen Schnee mit Kaffee und Kuchen zu feiern. Bei jeder nur denkbaren Gelegenheit in Büchel präsent zu sein, so sieht der Kalender eines Friedensaktivisten aus, der das Schlimmste verhindern möchte, den Einsatz dieser unmenschlichen und sämtliches Leben zerstörenden Waffen.
Als ich 2017 vom Tod Stanislav Petrovs hörte, begann ich mich für die Hintergründe der damals 72-jährigen Geschichte dieser Waffen zu interessieren. Ich erinnerte mich nur schwach, als meine Frau mir um die Jahrtausendwende herum mitteilte, ein sowjetischer Marineoffizier hätte uns allen das Leben gerettet – ich nahm diese Meldung nicht richtig wahr. Nun hörte ich von Petrov, dem Weltenretter, und mit ihm im Zusammenhang von einem Unternehmer aus Oberhausen, Karl Schumacher. Schumacher besuchte Petrov In der Nähe von Moskau und lud ihn ins Ruhrgebiet ein. Und plötzlich wurde mir klar, dass es mindestens 2 Weltenretter geben müsste, nämlich ein gewisser Marineoffizier Archipov (1962) und Petrov (1983).
Das war zu viel auf einmal. Ich ging der Sache nach und fand immer mehr Literatur über besorgniserregende Vorfälle und automatisch auch über Weltenretter. 2019 im April fand wieder der Ostermarsch in Büchel statt. Ich stand vor meinem Tisch und verteilte Flyer mit neun kritischen Vorfällen, Archipov und Petrov eingeschlossen. Zunächst bekam ich den Hinweis, dass in den 80er Jahren zwei mit Atomwaffen bestückte U-Boote der USA und der Sowjetunion einen furchtbaren Crash hatten. Und ich war dankbar für den 10. Fall auf meiner Liste. Es war schon fast Schluss der Veranstaltung, da kam ein Mann auf mich zu und stellte sich als Professor Karl-Hans Bläsius vor. Er war IT-Professor in Trier und befasst sich seit den 80er Jahren mit Frühwarn- und Entscheidungssystemen für Atomwaffen. Ich war total happy, denn es hatten sich zwei Engagierte gesucht und gefunden!
„Atomkrieg aus Versehen“
In der nun folgenden Zeit ging ich viel zielgerichteter vor und wir ergänzten uns sehr gut. Prof. Bläsius begann, die Webseite https://atomkrieg-aus-versehen.de/ „Atomkrieg aus Versehen“ zu erstellen. Ich stieß auf immer mehr Literatur mit immer mehr Vorfällen, was mich verblüffte. Als sich durch eine solche Literatur meine Kenntnis der Vorfälle sprunghaft verdoppelte, bekam ich eine Krise: Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Meine Frau z.B. wollte von diesen doch eher negativen Dingen nichts wissen und schützte sich gewissermaßen davor. Ich überlegte, das Gleiche zu tun und aufzuhören – was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Da aber in mir eine neugierige Forscherseele steckt, beschloss ich, Augen zu und durch, weiterzumachen.
Als ich im Sommer 2019 meinen ersten Vortrag hielt, bei Pax Terra Musica in der Nähe von Berlin, hatte ich bereits besorgniserregende 46 Vorfälle inklusive sieben Weltenretter registriert. Das Publikum hatte mit dieser Fülle nicht gerechnet und brauchte etwa drei Minuten, um wieder die Fassung zu finden und mir Fragen zu stellen. Ich war wohl zu forsch zu Werke gegangen. In den darauffolgenden Vorträgen ging ich mit mehr Fingerspitzengefühl daran, denn es ging um über 80 Vorfälle, mit hochgerechnet zwei Vorfällen pro Jahr, die gezeigt werden mussten.
Mittlerweile kenne ich die Kinder von Stanislav Petrov, Elena und Dimitrij, persönlich und den Enkel von Wassilij Archipov, Sergej Andrijukov, per Email. Von weiteren Weltenrettern waren mir Grabstellen bekannt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bekamen die Nachfahren der Weltenretter Blumen geschickt, das wäre am Geburts- und Sterbetag und vor allem am Tag der Tat. Man sollte diese Tage der Tat ruhig Petrov-Tag und Archipov-Tag, Brown-Tag, Livingston-Tag, Rupp-Tag und Preminin-Tag nennen, leider weiß ich von einem der sieben Weltenretter den Namen nicht, also auch „N.N.-Tag“. Doch im Umbenennen sind die Menschen etwas zögerlich, mein Vorschlag, in Bonn den Wilhelmsplatz in Archipov-Petrov-Platz umzubenennen, misslang. Vorerst!
Steigendes Interesse
Im September 2019 zeigte ich anlässlich der Friedenstage in Bonn im Frauenmuseum 20 Filme und lud je eine relevante Person dazu ein für eine Diskussion nach dem Film. Bei den fünf Filmen, die mit Atomkrieg/Atomwaffen zu tun hatten, hörten wir jeweils einen Vortrag von Karl-Hans Bläsius. Meiner Friedensgruppe und ihrer Kasse habe ich es zu verdanken, nicht ganz im Minus zu versinken, denn die Spenden konnten die Lizenzen nur zu ¼ decken.
Mittlerweile haben Karl-Hans und ich viele Personen um uns geschart, die Webseite ist gewachsen und es gibt mit vielen Menschen, die in verschiedensten Metiers zuhause sind, sehr gute Kontakte. Die Veröffentlichungen, Vorträge, Aufsätze, auch in bekannten Medien, sind sprunghaft angestiegen und wir sind z.B. in der Lage, über Weltenretter detailliert zu berichten, die menschlichen und technischen Fehler der Vorfälle zu klassifizieren, Ursachen der Risikoerhöhung und Maßnahmen der Risikosenkung des Atomwaffeneinsatzes zu diskutieren oder den Zusammenhang zur K.I. (Künstlichen Intelligenz) herzustellen.
Nun soll bei dieser 12-teiligen Aufsatzreihe mit Stanislav Petrov begonnen werden:
26.09.1983: Der diensthabende Offizier Oberstleutnant Stanislav Jewgrafowitsch Petrov (* 07.09.1939, + 19.05.2017) ignorierte im Luftverteidigungszentrum in Serpuchov-15 bei Moskau trotz offenbar fehlerfrei arbeitender Computer einen vermeintlichen US-amerikanischen Atomwaffenangriff durch fünf Raketen. Was aber, wenn er falsch lag? Dann würde millionenschwere Schuld auf ihm lasten. Petrov bezog das Radar für seine Entscheidung ein und nach bangen 18 Minuten stand fest, dass es sich um Fehlalarme handelte.
Jetzt wäre es für einen Gegenschlag bereits zu spät gewesen. Vermutlich war ein Sensorproblem die Ursache, mindestens einer der Infrarotsensoren wurde durch die Tag-/Nachtgrenze gestört (Sensorfehler).
Petrov hatte Recht behalten und wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Karl Schumacher, ein Unternehmer aus Oberhausen, besuchte Petrov in Frjasino bei Moskau und lud ihn ins Ruhrgebiet ein. Vor kurzem brachte er das Buch „Danke für die Rettung“ heraus (1).
Schumacher, der auch Gorbatschov besuchte, sprach auf diversen Podien über Petrov, hier beim Bonner Bürgerradio „Medienwerkstatt Bonn“ (2).
In Oberhausen wurde 2019 zum 2. Todestag Petrovs eine Gedenktafel angebracht. Petrovs Kinder Elena Stanislavovna Veretennikova und Dimitrij Stanislavovich Petrov waren anwesend.
In einem Filmausschnitt wird das Geschehen deutlich.
Fazit
In den vergangenen 80 Jahren waren in der Literatur mindestens 80 besorgniserregende Vorfälle zu finden, meist in den USA geschehen. Wenn eine Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis dauerhaft größer Null ist, wird dieses Ereignis mit Sicherheit eintreten, irgendwann.
Atomwaffen und ihre Peripherie stellen das größte globale Sicherheitsrisiko aller Zeiten dar. Sie sind praktisch unbeherrschbar und militärisch sinnlos, da sie das Kriegsgeschehen sicher eskalieren lassen. Die Atomwaffentechnik befindet sich in einer Sackgasse, aus der sie nicht entkommen kann. Eine sofortige weltweite Abrüstung und Vernichtung der Waffen wäre die logische Konsequenz.
Literatur
(1) | Schumacher, K. (2023). Danke für die Rettung. Stanislav Petrow und Michael Gorbatschow. BoD Books on Demand. https://www.bod.de/buchshop/danke-fuer-die-rettung-karl-schumacher-9783757874230 |
(2) | Schierhorn, U.W. (2018). Wird es einen Archipov-Petrov-Platz in Bonn geben ? YouTube-Kanal Bass Azubi. https://www.youtube.com/watch?v=3xQVscu_PUs Medienwerkstatt Bonn. |
Bläsius, K.H. (2019-z.Z.). „Atomkrieg aus Versehen“. Initiative. https://atomkrieg-aus-versehen.de/ | |
Schierhorn, U.W. (2021): Fehlalarme, Unfälle und Beinahe-Katastrophen mit Atomwaffen. Artikel. Kurzversion: https://www.fwes.info/fubk-21-1-SHORT-de.pdf | |
Schierhorn, U.W. (2021): Fehlalarme, Unfälle und Beinahe-Katastrophen mit Atomwaffen. Artikel. Langversion: https://www.fwes.info/fubk-21-1-LONG-de.pdf | |
Schierhorn, U.W. (2021): Fehlalarme, Unfälle und Beinahe-Katastrophen mit Atomwaffen. Artikel. Druckversion (1 Blatt kompakt): https://www.fwes.info/fubk-21-1-FOUR-PAGES-de.pdf | |
Schierhorn, U.W. (2023). Mögliche Maßnahmen zur Reduzierung des Atomkriegsrisikos – Vorschläge: https://atomkrieg-aus-versehen.de/massnahmen-vorschlaege/ |
Die Aufsatzreihe handelt von 7 Weltenrettern, menschlichen Fehlern, technischen Fehlern, risikoerhöhenden Ursachen, risikosenkenden Maßnahmen sowie K.I. (Künstlicher Intelligenz) im Zusammenhang mit Atomwaffen.
Anmerkung der Redaktion: Der Autor ist Mitglied des Landesvorstands NRW (Säule Machtbegrenzung) und Mitglied der AG Frieden Bund. Er bietet auf Anfrage Vorträge zum Thema Weltenretter an.