Ein Gastbeitrag von Alfred Herrmann
Zuerst hier erschienen
In einer Zeit, in der die Weltuntergangsuhr der Atomwissenschaftler 90 Sekunden vor Mitternacht zeigt – näher am Abgrund als je zuvor –, stellt sich eine fundamentale Frage: Führt die Logik der Abschreckung wirklich zum Frieden, oder ist sie der erste Schritt in den Krieg?
Ein bekennender Pazifist wagt den Blick hinter die Fassade einer Gesellschaft, die „Frieden schaffen mit Waffen“ für alternativlos hält. Von den Nazi-Gräueltaten in Guernica über die Atombomben auf Hiroshima bis hin zum Ukraine-Konflikt – überall dieselbe fatale Denkweise: Abschreckung als Rechtfertigung für Gewalt.
Doch wohin führt uns diese Logik der Stärke? Der Autor zeigt, wie die Abschreckungsideologie wie ein Virus alle Parteien erfasst hat und selbst christliche und pazifistische Grundwerte verdrängt. Seine provokante These: Pazifismus ist heute kein romantischer Idealismus mehr, sondern ein Gebot des Überlebens. Die Alternative zur atomaren Vernichtung liegt nicht in noch mehr Waffen, sondern im Erwachen zu unserer fundamentalen Verbundenheit als Menschheit.

Selbstverständnis eines Pazifisten
Ich sage es gleich: Ich bin Pazifist.
Was ist das, ein Pazifist? Einer, der die rechte Backe hinhält, wenn ihm auf die linke geschlagen wird? Das ist der radikale Pazifismus, den Jesus gepredigt hat. Auch der in Deutschland sehr beliebte Mahatma Gandhi war mit einem radikalen Pazifismus erfolgreich, der jegliche Gewaltanwendung, selbst zur Selbstverteidigung, ablehnt. Die Deutschen galten ja bis vor Corona noch als das pazifistischste Volk Europas, das man kaum zum Jagen tragen konnte. Bundeskanzler Kohl zahlte sogar zehn Milliarden an die Amerikaner, um am Golfkrieg nicht teilnehmen zu müssen. Erst SPD-Kanzler Schröder und sein grüner Kompagnon Joschka Fischer begannen 1999 einen Angriffskrieg, der nicht von den Vereinten Nationen gedeckt war. Elf Wochen lang wurde Serbien heftig bombardiert – zuerst Klärwerke und Elektrizitätswerke, dann Fabriken und Infrastruktur. Wie üblich bemüht man zur Rechtfertigung Hitler-Vergleiche. Statt „Nie wieder Krieg“ lautete Fischers Propagandaformel „Nie wieder Auschwitz“. Dazu musste man Slobodan Milošević natürlich so etwas wie Auschwitz unterstellen – was versucht wurde, sich aber später als nicht haltbar erwies.
Pazifismus als moralischer Standpunkt
Das erklärt vielleicht, warum ich heute so erstaunt bin, dass all diese Christen, die zu Hause einen Jesus am Kreuz hängen haben, bereit sind, mich als Putinversteher oder Putinknecht herabzuwürdigen, weil ich eine pazifistische Position vertrete.
Eine pazifistische Position bedeutet jedoch z. B., in einem Konflikt beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Wenn wir einem Angeklagten das Wort verbieten, sind wir definitiv im Faschismus.
„Frieden schaffen ohne Waffen“ – eine Idee ohne Lobby
Es gibt eine sehr schöne Definition von Pazifismus, nämlich: Frieden schaffen ohne Waffen. Leider scheint dieser Satz wenig Überzeugungskraft zu haben, denn die meisten Menschen halten es nach wie vor für selbstverständlich, dass der gegenteilige Satz „Frieden schaffen mit Waffen“ alternativlos sei. Das Zauberwort hier lautet: Abschreckung. Die „bösen Räuber dieser Welt“ würden ohne Abschreckung angeblich rauben und morden ohne Ende.
Zurück in die Barbarei
Doch wohin führt uns diese Denkweise? In barbarische Zeiten – in vor-zivilisatorische Zeiten, als das einzige Gesetz gegen die Macht des Stärkeren das biblische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ war. Ein Satz, der durchaus klug ist, weil er die starke Tendenz zur Eskalation zu bremsen versucht. Es dauerte allerdings Jahrtausende bis zur Proklamation der Menschenrechte und dem Gewaltmonopol des Rechtsstaats, dessen Prinzipien auch durch die Vereinten Nationen verwirklicht werden sollten. Doch das hat nicht funktioniert. Die internationale Politik ist bis heute ein rechtsfreier Raum. Mit dem Völkerrecht schmückt man sich nur, wenn es den eigenen Interessen dient. Es fehlt das Gewaltmonopol. Also: zurück zur Barbarei, zur Politik der Abschreckung.
Historische Lehren aus der Nazi-Zeit
Wir Deutschen sollten beim Wort „Abschreckung“ sofort an die Hitlerzeit denken. Niemand hat seine Gräueltaten so sehr mit Abschreckung begründet wie die Nazis. Die Bombardierung Guernicas sollte die Basken abschrecken, Oradour-sur-Glane die französische Résistance, Lidice die Tschechen nach der Ermordung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. Damit Abschreckung wirkt, muss man zu Gräueltaten bereit sein – und diese auch ausführen. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sind ein solches Beispiel: furchtbare Gräueltaten, die bis heute den Respekt vor dem amerikanischen Imperium begründen.
Pazifist wird man in dem Moment, in dem man erkennt: Die Logik der Abschreckung ist der erste Schritt in den Krieg. Im weniger radikalen Pazifismus – anders als bei Jesus oder Gandhi – ist Selbstverteidigung erlaubt, ja sogar geboten. Doch jeder Angreifer stellt seinen Angriff als Selbstverteidigung dar.
Der Ukraine-Krieg als Paradebeispiel
Wie diese Logik funktioniert, zeigt sich im Ukraine-Konflikt. Putin ist da keine Ausnahme. Er verwies zur Begründung seines Vorgehens ausdrücklich auf den Kosovo-Krieg und nannte auch Somalia, Libyen, Irak und Syrien – Länder mit traditionellen Beziehungen zu Russland. Die Russen glauben, das Recht zu haben, sich dem Hegemonialanspruch der USA zu widersetzen. Es gebe nicht nur Antisemitismus, sondern auch Antislawismus – letzteres lasten sie dem Westen an, der slawische Völker als minderwertig betrachtet habe.
Nachdem Putin den Ausverkauf der russischen Bodenschätze an internationale Oligarchen gestoppt hatte, besann sich das Land auf sich selbst. Acht Jahre Krieg gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbass – einstmals das Ruhrgebiet der Sowjetunion – ständige Aufrüstung an der russischen Grenze, die angestrebte NATO-Mitgliedschaft: all das ließ das Fass überlaufen. Putins rote Linien, 2007 in München formuliert, wurden überschritten. Der Einmarsch war aus seiner Sicht ein Akt der Abschreckung: bis hierhin und nicht weiter. Dass die Ukraine unterdessen massiv aufgerüstet wurde, war offenbar einkalkuliert. Merkel selbst räumte ein, dass Minsk II nur Zeit für Aufrüstung schaffen sollte. Die russische Militäraktion geriet zum Stellungskrieg. Laut russischer Darstellung wurden jedoch Biowaffenlabore geschlossen, die gezielt gegen slawische Ethnien gearbeitet hätten.
Von all dem erfahren die Deutschen nichts. Russische Quellen wurden blockiert. Der Angeklagte darf nicht gehört werden. Abschreckung ist wieder das Maß aller Dinge – wie einst unter Hitler.
Und so breitet sich diese Denkweise wie ein Virus aus: Wie eine Krankheit, die sich von Mutation zu Mutation verschlimmert. Alle rüsten auf. Die Grünen vergessen die Umwelt, die CDU die christliche Botschaft, die SPD die „kleinen Leute“, die Linke die Solidarität – und alle zusammen vergessen die Atombomben.
Die Ausblendung der atomaren Bedrohung
Der Gipfel der Absurdität: In einer Zeit, in der wieder Abschreckungsideologen regieren, wird die Mutter aller Abschreckung, die Atombombe, ausgeblendet. Dabei stehen wir heute näher am Atomkrieg als je zuvor – 90 Sekunden vor Mitternacht.
Wer die Logik der Abschreckung zu Ende denkt, landet bei der atomaren Vernichtung. Das ist ihre ultimative Konsequenz: die totale Zerstörung als letztes Argument. Genau deshalb ist Pazifismus heute keine romantische Utopie mehr, sondern ein Gebot des Überlebens. Die Alternative ist nicht Unterwerfung, sondern das Erwachen zur fundamentalen Verbundenheit: Die Erkenntnis, dass der Schmerz des anderen unser eigener ist – dass es keinen Sieg geben kann, wenn er auf dem Leid anderer basiert.
Doch die Abschreckungslogik verlangt das Gegenteil: Sie macht andere zu Werkzeuge des Bösen, damit wir uns als Werkzeuge des Guten begreifen. Der Feind denkt ebenso. Aber in dem Totalitarismus, der aus dieser Denkweise erwächst, gilt solche Erkenntnis als Wehrkraftzersetzung. Man kann dafür an die Wand gestellt werden. Denn der Sieg muss unser sein – sonst wären unsere Helden umsonst gestorben.