Eine mittelalterliche Pandemie – Erzählung

Ein Gastbeitrag von Holger Gräf

In der Zeit, als die Pest in Europa wütete und man nicht wusste, was sie war und woher sie kam, wurden allerlei Geschichten über ihre Ursachen und Abwehr erzählt, die teilweise in der Geschichte verloren gingen. Sie wurden einst als „Saltatio Mortis“, bzw. „Totentanz“ bezeichnet und von Musikanten und Geschichtenerzählern bei Musik vorgetragen. In der Carmina Burana, einer mittelalterlichen Liedersammlung, wurde gar ein solcher Totentanz notiert, der in seiner modernen Fassung auch heute noch gespielt wird.

mittelalterliche Pandemie-Erzählung

Hier ist eine (rekonstruierte und modernisierte) Fassung einer solchen Erzählung:

Eines Tages kam der leibhaftige Tod in eine mittelalterliche Stadt. Er stellte sich auf den Marktplatz, wartete, bis sich alle Menschen versammelt hatten, und sagte dann: „In genau einem Jahr werde ich wiederkehren und mir meinen Teil unter euch holen. Bereitet euch vor.“

Dann verschwand er, wie er gekommen war.

Die Menschen der Stadt aber gerieten durch diese Ankündigung in helle Aufregung. Wer könnte den Tod zu ihnen eingeladen haben? Schnell machte man ein paar Frauen aus, die man ohnehin der Hexerei verdächtigte, hielt Gericht über sie und verbrannte sie auf dem Scheiterhaufen. Doch man war sich nicht sicher, ob diese Maßnahmen wirklich reichten, um den Tod fernzuhalten.

Daher suchte man den Quacksalber auf, der sich schnell bereit erklärte, dem Tod mit einem Lebenselixier ein Schnippchen zu schlagen. Er braute ein Gemisch aus Quecksilber und Selen, von dem man sich sagte, dass es die Sinne schärfen und ein fast unnatürlich langes Leben ermöglichen würde, wenn man es bei Vollmond zubereitete. Das hatte er jedenfalls in einem geheimen Brief gelesen, der direkt aus China gekommen war und seine Kollegen waren sich in dem Punkt einig.

Die Leute standen Schlange vor seiner Tür und wollten es unbedingt haben. Sie verschuldeten sich gar, wenn sie den Preis, den der Quacksalber ihnen abverlangte, nicht zahlen konnten. Gierig schluckten sie das Elixier.

Alsbald wurden sie wahnsinnig und litten unter allerlei seltsamen Symptomen, die sich keiner so recht erklären konnte.

„Das muss der nahende Tod sein“, sagten sie und verlangten mehr von dem Elixier.

Viele unter ihnen starben. Man verweigerte den Toten ein ordentliches Begräbnis, sondern schichtete sie vor dem Stadttor auf, weil man Angst hatte, dass sie den Tod auf die Lebenden aufmerksam machen könnten.

Wer überlebte, war froh, dem unseligen Tod durch das Elixier entronnen zu sein.

Als der Tod nach einem Jahr zurückkehrte und den Berg aus Leichen vor dem Stadttor sah, seufzte er und begann damit, die Toten auf seinen viel zu kleinen Karren zu verladen. Da trat ein mutiges, junges Mädchen auf ihn zu.

„Was bist du nur für ein schändlicher Geselle“, sagte sie, „dass du so viel Leid über unsere Stadt gebracht hast.“

„Ich?“, fragte der Tod traurig. „Ich wollte nur einen holen. Des Müllers Vater, der bereits seit Monaten darniederlag und der mich mit offenen Armen wie einen Freund begrüßt hätte. Alle anderen habt ihr auf dem Gewissen.“

Ende

Wenn wir ehrlich sind, haben wir seit dem Mittelalter nicht sehr viel dazugelernt.